Tubifex | Videostill für 3-D-Rekonstruktion der Wurmbewegung ©:  Friederike Saxe | Bild Wissen Gestaltung
zoom_in
Tubifex | Videostill für 3-D-Rekonstruktion der Wurmbewegung ©: Friederike Saxe | Bild Wissen Gestaltung

Historische Strukturuntersuchungen im Labor

Forschungsthema

Die Strukturforschung war zwischen 1870 und 1930 in den naturwissenschaftlichen Bereichen zwar von außerordentlicher Bedeutung und wurde auf hohem Niveau betrieben, ihre Ergebnisse sind aber längst aus dem üblichen Zugriffsbereich der Labore verschwunden. Im Bereich der biologischen Materialien ist der Grund hierfür eine Verlagerung des Interesses zu den molekularen Mechanismen der Lebewesen. Daher rührt die These des Projekts, dass in diesen historischen Schichten (in Form von Literatur und Objekten im Naturkunde- und Kunstgewerbemuseum) wichtige neue Ideen für den Bereich der bio-inspirierten materialwissenschaftlichen Strukturforschung abgelagert sind (Fratzl/Weiner 2010).

Unabhängig davon ist eine andere Weiterentwicklung der interdisziplinären Strukturuntersuchungen von D’Arcy Thompson zu Buckminster Fuller erfolgt und von dort in das Feld der Gestaltungspraxis (Alexander, Eisenman, Foster) und Gestaltungstheorie und -geschichte übertragen worden. Daraus sind in den letzten Jahren Ansätze einer historischen Strukturenforschung (Schäffner 2008) entwickelt worden, die jenseits des klassischen geisteswissenschaftlichen Strukturalismus (Lévi-Strauss) eine transdisziplinäre Aufarbeitung der Strukturengeschichte verfolgt, die bis in die Gegenwart reicht.

Vor diesem Hintergrund soll es im Projekt darum gehen, diese unabhängigen Stränge wieder miteinander zu verbinden und die historisch orientierte Strukturenforschung mit den Laborforschungen zu verknüpfen. Unter diesen neuen Bedingungen können Sachverhalte, die zur Zeit ihrer Entdeckung nur Beobachtungswert hatten, jetzt Innovationscharakter bekommen. Historische Forschung soll ein systematischer Teil der Laborarbeit werden.

Zielsetzung

Es geht darum zu klären, inwieweit die historische Arbeit angesichts des heutigen Standes der naturwissenschaftlichen Forschung neue Bedeutung erhalten kann und welche der Struktur-Funktions-Beziehungen für Materialforschung, Design und Architektur gestalterisch interessant sind. Zudem stellt sich das Problem, aufgrund welcher Fragestellungen diese Strukturen damals wichtig wurden und weshalb und wann sie aus dem Blick verschwanden. Wie wirkt sich die technologische Veränderung (z.B. verbesserte Messmethoden) auf die Bildsprache, Erkennbarkeit oder Verwendungsmöglichkeit von Strukturen aus? Welche Auswahlkriterien für die Beschäftigung mit Strukturen (ästhetisch, technisch, biologisch) als Forschungsobjekt gibt es in den unterschiedlichen historischen Situationen?

Durchführung

In Kooperation zwischen Strukturengeschichte, aktueller Materialforschung, Architektur- und Designforschung und Biologie/Evolutionsforschung soll die historische Literatur (ca. 1870-1930) neu erschlossen, die darin beschriebenen Strukturen und Funktionen extrahiert und im Labor experimentell untersucht werden. Die Untersuchungen konzentrieren sich auf einige ausgesuchte Beispiele aus der bio-inspirierten Materialforschung, die auch einen Schwerpunkt der wissenschaftlichen Arbeit am MPI in Potsdam bildet.

Neben den natürlichen Aktuatoren, die auch im Projekt »Selbstbewegende Materialien« Gegenstand sind, werden natürliche Materialien, die es aufgrund einer ausgeklügelten inneren Struktur ermöglichen, widersprüchliche (mechanische) Eigenschaften wie Steifigkeit und Bruchfestigkeit zu vereinigen, im Fokus stehen. Beispiele sind der Knochen, aber auch das Skelett von Glasschwämmen, Panzer von Insekten oder Arthropoden, Muschelschalen und Pflanzenstängel. Die Vielfalt ist enorm und eine vorläufige Auswertung einiger weniger Bücher aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt, dass wesentlich mehr Detailwissen vorhanden ist als der Materialwissenschaft einfach zugänglich ist.

Beide Schwerpunkte werden jeweils von zwei Doktorand_innen und PostDocs, je einer aus den Natur- bzw. den Geisteswissenschaften als „Tandem“ bearbeitet, so dass einerseits die nötige fachliche Tiefe (in der jeweiligen Fachdisziplin) erreicht wird, die Doppelbetreuung aus Natur- und Geisteswissenschaften aber auch gleichzeitig die gewünschte transdisziplinäre Breite ermöglicht.

Ergebnissicherung

Die Ergebnisse werden in einer forschungsorientierten Ausstellung im Museum für Naturkunde anhand der erwähnten exemplarischen Objekte präsentiert werden. Außerdem soll ein Inventar von alten Büchern und Artikeln erstellt werden, das speziell für die Bedürfnisse der biomimetischen Materialforschung zugeschnitten ist. Ob sich eine Publikation in Buchform anbietet oder sich ein digitales Repository besser eignet, wird sich anhand der Forschungsergebnisse und der Auswertung von Nachnutzungsszenarien zeigen.